Alexejewka: Eine Reise in die Vergangenheit – oder Realität

Unendliche Steppenlandschaft und unglaublich hohe Wolken am Himmel – so wirkt der Weg mit dem Auto von Astana Richtung Alexejewka/Akkol. Eine gut ausgebaute Autobahn führt uns in etwas mehr als einer Stunde in unsere alte Heimat. Schon von weitem sieht man den kleinen Hausberg Kalantscha, der sich in der weiten Steppe deutlich absetzt, und die Vorfreude steigt. 22 Jahre waren wir nicht mehr hier. Wie sich wohl alles verändert hat? Werden die Menschen in der Stadt uns wiedererkennen? Als ich beim Halt am Stadtrand die Autotür öffne, strömt mir der nur zu gut bekannte Geruch nach kasachischem Gras und Blumen in die Nase. Unfassbar, wie sehr sich Gerüche in unser Gedächtnis einbrennen. Selbst nach all den Jahren erkenne ich den Geruch sofort wieder. Und so wird es mir in den kommenden Tagen noch oft so gehen.

Als wir Richtung Hotel in die Stadt reinfahren, sind wir perplex: Es ist nur sehr schwer in Worte zu fassen, wie es sich anfühlt, nach 22 Jahren zurückzukehren und zu sehen, wie verfallen viele Teile der Stadt (vornehmlich die Wohngebiete) inzwischen sind. Wie heruntergekommen altbekannte Orte und Gebäude sind, wie kaputt die Straßen abseits der zentralen Routen (also alles außer der Hauptstraße) und in welchen Verhältnissen die Menschen zum Teil leben. Auch damals, als wir 1994 das Land verlassen haben, waren die meisten Menschen in der Stadt nicht gerade wohlhabend. Dennoch waren Häuser und Straßen gut in Schuss. Dass 22 Jahre später die gleichen Häuser halb verfallen da stehen und die Menschen immer noch keine Wasserleitungen im Haus haben, sondern das Wasser mühsam von der Wasserpumpe nach Hause schleppen müssen, hatte ich nicht erwartet. Dieser erste Eindruck trübt die Stimmung. Es macht traurig. Mit Reichtum und Wohlstand hatte ich auch nicht gerechnet, aber dass es so aussehen würde, schockiert mich. Wie Flo so schön sagte: „Unfassbar, 4G-Abdeckung fast in der ganzen Stadt, aber keine Klos in den Häusern.“ Stattdessen stehen hinter den Häusern kleine, klapprige Holzklos – eine Erfahrung der etwas anderen Art.

Doch egal, in welchen Verhältnissen die Menschen hier leben, sie sind unfassbar gastfreundlich. Egal wo wir eingeladen sind: Es wird jede Menge aufgetischt, so viel können wir gar nicht essen. Wir müssen aber. 🙂 Und es wird natürlich auch getrunken, da kommt man hier nicht drumrum. Außer Flo – als Autofahrer hat er meist die perfekte Ausrede. Nur mal kurz auf einen Tee vorbeischauen, klappt hier nicht. Meist werden aus einem kurzen Besuch mehrere Stunden. Alte Geschichten werden erzählt. Wir berichten von unserem Leben in Deutschland und die Leute erzählen, wie es nach unserer Abreise in Kasachstan so war. Von der Zeit Ende der 90er, als es nur für wenige Stunden am Tag Strom gab und Wasser an der Wasserpumpe nur gegen Bons erhältlich war – in einer Stadt mit riesigen Wasservorräten. Seit dem sei aber doch vieles besser geworden, sagen die Leute.

Eins der wichtigsten Ziele in der Stadt ist für mich unser altes Haus. Als ich den Kiefernwald sehe, wo wir als Kinder oft gespielt haben, blühe ich förmlich wieder auf. Es ist aufregend. Und in diesem Teil der Stadt sieht der Zustand der Häuser deutlich besser aus. Unser Haus erkenne ich sofort, sobald wir oben auf dem Hügel in unsere Straße einbiegen. Nur: Was haben sie mit dieser Straße gemacht? Der Asphalt ist durchzogen von tiefen Schlaglöchern. Straßenbau scheint hier in den Städten und Dörfern nicht die höchste Priorität zu haben. Wie wenig, das ahnen wir an dem Tag noch gar nicht. Immerhin, unser Haus ist sehr gut in Schuss. Ende der 80er hat Papa dieses Haus selbst mit viel Liebe und Fleiß gebaut. Inzwischen wohnen hier unsere ehemaligen Nachbarn, mit deren Tochter ich früher gut befreundet war und zur Schule gegangen bin. Es ist großartig, sie und ihre Eltern nach all der Zeit wieder zu sehen.  Und unser altes Haus ist auch von innen ein Traum! Schon vor Jahren wurde ein Wasseranschluss eingebaut, das ehemalige Zimmer meines Bruders ist nun das Bad. ^^ Es ist eine große Freude, Haus und Hof in so gutem Zustand zu sehen.

Oben auf dem Hügel in unserer alten Straße wachsen vereinzelte Kiefern und liegen riesige ovale Steine – „meine Steine“, wie ich sie nenne. Hier habe ich als Kind meistens mit meinen Freunden gespielt, das war unser Spielplatz. Wir sind auf die Bäume geklettert und sind auf den Steinen rumgeturnt. Jetzt wird auch hier gebaut. Ein Teil des Geländes ist aber noch begehbar. Der nächste wohlbekannte Duft aus meiner Kindheit strömt mir in die Nase: wilder Thymian, der hier überall wächst. Den haben wir früher immer gesammelt und getrocknet und wenn wir erkältet waren, wurde daraus Tee gekocht. Mein Vater ist ganz überrascht zu hören, dass wir zu Hause Thymian vor allem verwenden, wenn wir etwas mit Schweinefleisch kochen.

Die erste Nacht in unserem Hotel wird zur Bewährungsprobe für unsere Nerven. In dem Hotel befinden sich noch ein Restaurant und eine Karaoke Bar. Auf Karaoke scheinen die Menschen in Kasachstan sehr zu stehen. Wir nicht so sehr und die erste Nacht im Hotel macht es nicht besser. Denn beim Einchecken ins Hotel vergisst man, uns darauf hinzuweisen, dass unsere Zimmer direkt  über dem Restaurant liegen, in dem bis 3 Uhr nachts (!!!) Karaoke gesungen wird. Jeden Tag. Und so liegen wir also wach und lauschen den immer schrilleren und lauteren Gesängen, je später es wird und je mehr Vodka fließt. Auf meine Nachfrage bei der Rezeption um zwei Uhr nachts heißt es nur: „Ach, das wird die nächsten Tage, zum Wochenende hin, noch schlimmer. Und nein, wir haben keine anderen Zimmer für euch.“ Nun gut, dann ziehen wir halt am nächsten Morgen in ein anderes Hotel um. Neu gebaut, mitten im Zentrum, bequeme Betten und – das Wichtigste – keine Karaoke Bar.

So vergehen die ersten paar Tage. Wir schauen uns die Stadt und die uns bekannten Ecken an, ich fahre mit Flo an meiner alten Schule vorbei, die auch schon bessere Tage gesehen hat, wir besuchen die Gräber unserer Lieben und Papa in der neuen Poliklinik vorbei. Hier wird er nicht nur gleich von ehemaligen Kollegen aus seiner Ärztezeit wiedererkannt. Selbst sein alter Apparat zur Desinfektion der HNO-Geräte, der in den 70ern gekauft wurde, ist immer noch in Betrieb. Wo wir mit dem Papa nicht hingehen, immer wieder erkennen ihn die Leute. Kein Wunder, er war jahrelang der städtische HNO-Arzt in Alexejewka, ihn kannten viele.

Am dritten Tag entscheiden wir uns, in das Dorf zu fahren, wo meine Oma früher gewohnt hat und wo ich sämtliche Ferien (hier haben die Kinder drei Monate Sommerferien, Juni bis August) verbracht habe. Man warnt uns vor, dass die Straße nicht so gut sei, aber dass es schon gehe. Also machen wir uns auf den Weg. Doch dass sie Straße „nicht so gut“ ist, ist eine riesige Untertreibung. Eigentlich ist von der Straße, wie sie früher war, nichts mehr übrig. Statt Straße gibt es eine Aneinanderreihung riesiger Schlaglöcher, durchbrochen von einzelnen Stücken alten Asphalts und Schotter. Hier wäre ein Geländewagen vonnöten. Schneller als 30 bis 40 Kmh kann Flo nicht fahren. Und so brauchen wir für die Strecke von 40 Kilometern über eine Stunde. Im Dorf erwartet uns das gleiche Bild: viele halb verfallene, heruntergekommene Häuser. Hier hat wirklich kaum jemand fließend Wasser. Das Haus meiner Oma ist in keinem guten Zustand. Die aktuellen Besitzer haben vieles verkommen lassen, erzählen uns unsere Bekannten, die im Haus nebenan wohnen. Auch der riesige Garten, in dem jeden Sommer vor allem Kartoffeln wuchsen, ist nun komplett zugewuchert. Ich erinnere mich noch gut daran, wie jedes Frühjahr die Kartoffeln in Handarbeit gepflanzt und im Herbst geerntet wurden. So wie viele andere Obst- und Gemüsesorten. Und im Herbst wurde das alles in riesigen Erdkellern für den harten Winter eingelagert. Viele Menschen machen das bis heute hier noch so. Lediglich Kühe und Schweine werden nur noch selten gehalten und die Ställe stehen leer. Hauptgrund dafür ist, dass das Futter zu teuer geworden ist.

Das Positive an dieser Fahrt: Ich sehe noch einen wichtigen Ort meiner Kindheit. Und wir sehen noch mehr von der schönen Steppenlandschaft Kasachstans. Es ist nahezu respekteinflößend, in der Steppe zu stehen und die Weite auf sich wirken zu lassen. So weit in die Ferne kann man bei uns im Süden Deutschlands nicht schauen. Wahrlich unendliche Weiten mit sich hoch auftürmenden Wolken, aus denen sich in regelmäßigen Abstände große Massen an Regen ergießen. Das durchwachsene Wetter begleitet uns weiterhin. Und sorgt dafür, dass hier alles unglaublich grün ist. Im Sommer ist die Steppe zu dieser Zeit oft schon gelb und ausgetrocknet. Welch schöne grüne Ecken es in diesem Land noch gibt, sehen wir in Borowoje – aber dazu später mehr. 🙂

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